In einem Projekt der Kantonsschule Reussbühl Luzern in Zusammenarbeit mit der PH Luzern konnten Schüler/-innen sowie Studierende dem DDR-Widerstandskämpfer Dr. Wolfgang Welsch begegnen. Im Gespräch mit den Studierenden der Sekundarstufe 2 Geschichte sowie des Masterstudiengangs Geschichtsdidaktik und öffentliche Geschichtsvermittlung stand der Umgang mit Zeitzeugen im Unterricht im Zentrum.

Boizenburg 1964: Wie viele andere will auch der 20-jährige Wolfgang Welsch die Deutsche Demokratische Republik Richtung Westen verlassen. Sein Fluchtversuch misslingt. Anstatt der erträumten Schauspieler-Karriere beginnt für ihn ein mehrjähriges Martyrium in den Haftanstalten der DDR. Angeklagt wegen Flucht, Hochverrats, staatsgefährdender Hetze und Propaganda. 1971 in die BRD freigekauft, engagiert sich Welsch als Fluchthelfer und verhilft in den nächsten 10 Jahren über 220 Menschen zur Flucht aus der Diktatur.

Doch deren Repressionsapparat tangiert ihn auch ausserhalb der Landesgrenzen: Wolfgang Welsch überlebt drei Mordanschläge, die er erst nach dem Zusammenbruch des Regimes aufgrund von Archivakten und in Strafprozessen gegen die Verantwortlichen rekonstruieren kann. Seit den 1990er Jahren publiziert er Sachbücher und Romane, darunter auch das verfilmte Hauptwerk «Ich war Staatsfeind Nr. 1».

Am 18. März 2024 berichtete Wolfgang Welsch als Zeitzeuge von seiner Verhaftung, der Folter und seinem Widerstandskampf gegen den Unrechtsstaat. Am Morgen verfolgten rund 150 Schüler/-innen gebannt die Ausführungen des «Staatsfeinds» der DDR. Im Wirtschafts- und Geschichtsunterricht hatten sie sich auf den Vortrag vorbereitet, Fragen formuliert und in der Nachbereitung über ihre Eindrücke diskutiert.

Wie man eine solche Begegnung mit Schüler/-innen angehen kann, war am Nachmittag das Thema mit den Studierenden an der PH Luzern: Wie kann man einem Zeitzeugen mit einer derart bewegten Biografie, gezeichnet vom Kampf gegen den repressiven Machtapparat, auch kritische Fragen stellen? Rasch wird klar, dass mit dem Zeitzeugen Wolfgang Welsch zwar ein Eindruck von der DDR entsteht, seine Perspektive aber noch nicht «die Geschichte» erklärt. Exemplarisch steht sein unermüdliches Engagement dagegen für den Kampf um Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, also für die politische Bildung. Welch bittere Koinzidenz, dass just während unserer Planung der Veranstaltungen die Nachricht vom Tod des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny eintraf.

Wolfgang Welsch ist seit 20 Jahren immer wieder zu Besuch an Luzerner Gymnasien gewesen. Der Initialkontakt geht zurück auf das Engagement von Dr. Walo Tödtli, ehemaliger Wirtschaftslehrer an der Kantonsschule Reussbühl und ehemaliger Mitarbeiter am Zentrum für Menschenrechtsbildung der PH Luzern. Das Zentrum ist heute integriert ins Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen (IGE). Die Doppelveranstaltung an der Kantonsschule Reussbühl und der PH Luzern kehrte somit zurück zum Ursprung des Begegnungsanlasses mit dem Zeitzeugen.

Michel Charrière
Dozent & Wissenschaftlicher Mitarbeiter
PH Luzern