Das ist der Titel eines neuen Buches der 1985 in der DDR geborenen Katja Hoyer, das bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschienen ist und mit viel Vorschusslorbeer bedacht wurde. Darin schildert sie vierzig Jahre deutschen Sozialismus aus der Sicht derer, die ihn tagtäglich selbst erlebt haben: Menschen, die liebten, arbeiteten, in den Urlaub fuhren, Witze über ihre Politiker machten, ihre Kinder aufzogen und Leben lebten, von denen noch nie so fulminant erzählt wurde wie in diesem Buch, heißt es im Klappentext. Ist dem so?
Beginnen wir mit dem Schutzumschlag der Hamburger Ausgabe: Der ist, wenn man das flapsig formulieren darf, doch ziemlich daneben geraten. Ein Peitschenmast neben dem Lenindenkmal und den Hochhäusern am Ostberliner Leninplatz, daneben ein Liebespaar vor einer Karte mit den Umrissen der DDR, und das alles schön schwarz-weiß auf einem roten Fond. Dass es auch anders, will sagen besser geht, beweist die britische Ausgabe, die ein Farbfoto von Thomas Höpker verwendet, das um 1978 den Titel für ein STERN-Buch mit dem Titel Leben in der DDR zierte. Zuvorderst enthält das Buch von Katja Hoyer mehrere Karten, die dem Leser helfen sollen, sich zu orientieren. Diese zeigen die vier Sektoren im geteilten Berlin, die DDR mit allen Kreisstädten, die DDR mit ihren Bezirken und Deutschland mit seinen Ländern – und auch die Karte Europa im Kalten Krieg. Bei der zuletzt genannten Karte fällt auf, dass anstelle der Ukrainischen Sowjetrepublik die Ukraine eingezeichnet ist, während die benachbarte Bjelorussische Sowjetrepublik (seit 1991 Belarus) unter den Tisch fällt – wiewohl auf Seite 317 (Zeit: April 1971) von einem bjelarussischen General die Rede ist.
Mit den Russen hat’s die 1985 in Guben als Tochter eines Offiziers der Volksarmee (NVA) geborene Autorin. Immer wieder Russen: Russische Befreier, russische Besatzer, russische Gefangenschaft, russische Hauptstadt, russische Offiziere, russische Panzer, russische Soldaten, russische Vernehmungsbeamte…Nur, wer in der DDR von Russen sprach, dem drohte sofortige Maßregelung: Sowjetmenschen hieß die offizielle Sprachregelung für die Russen, und Sowjetrussland war nichts anderes als die Sowjetunion. Das Geschrei, das sich seinerzeit jedes Mal erhob, wenn jemand von den Russen sprach, ist dem Gezeter von heute vergleichbar, das die ‘Sprachpolizei‘ der Bunten Republik immer dann anstimmt, wenn man von Negern oder Zigeunern spricht. Ja, und – irgendwelche Beamte hat es gleich gar nicht gegeben. Weder in der Sowjetunion, noch überhaupt in deren Machtbereich, also dem sogenannten Ostblock. Dessen ungeachtet, kommen bei Katja Hoyer immer wieder Beamte vor: Beamte der Verkehrspolizei erschossen Günter Litfin, Grenzbeamte eröffneten das Feuer auf Peter Fechter, Beamte am Grenzkontrollpunkt Drewitz waren verantwortlich für den Tod eines Transitreisenden, Polizeibeamte, Stasi-Beamte natürlich – Leo Bauer wurde von deutschen und russischen Vernehmungsbeamten gefoltert. Das sind Falschinformationen die gar nicht gehen. Den dienstrechtlichen Status eines Beamten wie wir ihn verstehen gab es nicht. Es waren der Staatsideologie verpflichtete Funktionsträger.
Dann ist da zum Beispiel von Nazideutschland die Rede und von Sowjetrußland. Das ist einfach unseriös. Ebenso die Formulierung, wonach die Nazis behaupteten, dass ein junger niederländischer Kommunist namens Marinus van der Lubbe den Reichstag in Brand gesteckt habe. Freilich kam der Reichstagsbrand für Adolf Hitler wie gerufen, doch gilt mittlerweile als wissenschaftlich erwiesen, dass dem anarchistischen Stadtstreicher bei seiner Untat der sogenannte Kamin-Effekt in die Hände spielte. Zum KZ Sonnenburg bei Kostrzyn im heutigen Polen sei angemerkt, dass es sich um das KL Sonnenburg bei Küstrin in der Neumark (heute Kostrzyn/Wielkopolska) handelt; im Übrigen ist das Akronym KZ ein kommunistischer Kampfbegriff. Für alle, die jetzt nach dem Staatsanwalt rufen: Einfach mal nachlesen bei Nikolaus Wachsmann: KL – Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager (2015).
So, und dann meint Katja Hoyer, dem unbedarften Leser das Heldenlied von Teddy Thälmann, Deutschlands unsterblichen Sohn, vortragen zu müssen. Ich gehöre freilich zu jener Generation, die dieses Ammenmärchen oft genug zu hören bekamen. Meine Banknachbarin meldete damals der Pionierleiterin, dass ihr Großvater auch in Buchenwald gewesen sei. So wie Ernst Thälmann! Die PiLei startete sofort durch, um den alten Mann für einen Pioniernachmittag zu gewinnen – und ergriff dann panikartig die Flucht, nachdem das ehemalige NSDAP-Mitglied zugegeben hatte, dass er ein paar Jahre in Buchenwald gewesen sei – aber nach 1945. An dieser Stelle sei auf ein lesenswertes Buch von Thilo Gabelmann hingewiesen: Thälmann ist niemals gefallen? Eine Legende stirbt. Verlag Das neue Berlin, 1996. Nein, Katja Hoyer: Teddy erlitt nicht die schlimmsten Strafen, und Teddy wurde nicht mit dem Sjambok blutig geschlagen! Der Teufel steckt bekanntlich im Detail, und so stößt man bei diesem Buch zwangsläufig immer wieder auf Formulierungen, die der Richtigstellung bedürfen: Workuta zum Beispiel (S.31) war keinesfalls ein Arbeitslager, sondern ein riesiger Lagerbezirk mit sehr, sehr vielen Arbeitslagern am nördlichen Polarkreis. Und Wolfgang Leonhard kam Ende Oktober keineswegs am Moskauer Bahnhof an, sondern an einem der Moskauer Bahnhöfe (S.33). Johannes R. Becher einen Schriftsteller zu nennen, halte ich für ziemlich gewagt, Auch kam Philipp Tolziner nicht in einen Gulag bei Solikamsk (S.35), sondern eher in ein Arbeitslager. Denn das Akronym GULag steht für Glawnoje Uprawlenije Lager – Hauptverwaltung der Lager. Auch ist die Lubjanka ganz gewiss nicht an der Stelle errichtet worden, an der die Geheimpolizei von Katharina der Großen einst ihr Hauptquartier unterhalten hatte (S.38).
Nachdem Lenin und Genossen die Macht an sich gerissen hatten, beschlagnahmten sie zahllose Liegenschaften und machten sie ihren Zwecken dienstbar. Dazu gehörte (in Moskau natürlich) auch das Hauptgebäude einer großen Versicherungsgesellschaft – eben die besagte Lubjanka. Im Übrigen kommen des öfteren Details aus den Biografien gar mancher Helden der Arbeiterklasse zur Sprache, die einfach nicht stimmen. Wilhelm Pieck zum Beispiel verbrachte ganz gewiss nicht einen Großteil des Ersten Weltkrieges im Gefängnis (S.48), er saß lediglich ein paar Monate in Untersuchungshaft.
Die Verfassung der Bundesrepublik, heißt es sodann (S.113), das Grundgesetz. Die Bundesrepublik hat nun mal keine Verfassung sondern ein Grundgesetz vom 8. Mai 1949. Interessant ist freilich, dass Katja Hoyer auf den Tod von Wilhelm Kreikemeyer eingeht (S.139). Indes – in dem vierstöckigen Ziegelbau in der Albrechtstraße? Das ist ein Bunker. Aus massivem Beton! Zudem war Rudolf Herrnstadt auch nicht der Herausgeber der Parteizeitung (S.161), sondern Chefredakteur von NEUES DEUTSCHLAND, Zentralorgan der SED.
Viele Flüchtigkeitsfehler fallen auf: Die DDR wurde beispielsweise nicht am 3. Oktober (S. 292) gegründet, sondern am 7. Oktober 1949, die NVA am 1. März 1956 und nicht am 18. Januar (S.192). Eine örtliche Stasi-Außenstelle (S. 206) nannte man eine Kreisdienststelle des MfS. Walter Ulbricht war zudem auch nicht der Erste Sekretär der DDR (S.225) sondern Vorsitzender des Staatsrates und erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, und Hans Modrow war keinesfalls Erster Sekretär der Dresdner SED (S.221), sondern Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden. Auch Stasi-Wachregimenter (S.229) werden erwähnt. Doch es gab nur eines, nämlich des MfS-Wachregiment Feliks Dzierzynski in Berlin Adlershof. Weitere Wachregimenter gehörten zur NVA.
Natürlich werden in dem Buch von Katja Hoyer zwangsläufig Politiker der ehemaligen Sowjetunion erwähnt. Also Josef Stalin oder Wjatscheslaw Molotow. Nur: ein echter nom de guerre kennt weder Vor-, noch Vatersnamen. Deshalb sollte es heißen Wjatscheslaw Skrjabin – oder Molotow, Iossif Dshugashwili – oder Stalin, Wladimir Uljanow – oder Lenin, Glejb Bronstein – oder Trotzki. Es gäbe noch jede Menge zu beanstanden. Die DDR hatte bekanntlich zwei sogenannte Urlauberschiffe, die Fritz Heckert und die Völkerfreundschaft. Von der Fritz Heckert weiß Katja Hoyer zu vermelden, dass dieses GTMS (was das sein soll erklärt sie nicht, ein Abkürzungsverzeichnis fehlt). Besagtes Kreuzfahrtschiff bot von 1960 bis 1972 rund 63.000 Passagieren die Möglichkeit, eine Kreuzfahrt zu unternehmen (S.245). Die Zahl der Passagiere mag stimmen. Nur waren es nur zu einem geringen Prozentsatz Werktätige aus der DDR, sondern mehrheitlich Bürger der BRD. Denn die Urlauberschiffe des FDGB spielten dringend benötigte Devisen ein. Stichwort: Neckermann-Reisen.
Obwohl eine Untersuchung des Israelischen Generalstabes ergab, dass die deutschen Soldaten in beiden Weltkriegen als die tapfersten und diszipliniertesten galten, weiß Klein-Katja genau, dass die Deutsche Wehrmacht plünderte, vergewaltigte, brandschatzte und abschlachtete (S. 60). Vom dem als Fackelmänner–Befehl bekannt gewordenen sowjetischen Stawka Befehl Nr. 0428 vom 17. November 1941 hatte sie offenbar nie etwas gehört, zufolge dessen sowjetische Kommandoeinheiten in Uniformen der Deutschen Wehrmacht schauderhafte Verbrechen begingen. Oder von den Tagen ohne Gott, als marokkanische Söldlinge im Schwarzwald rudelweise deutsche Frauen und Mädchen schändeten? Oder davon, was den Deutschen in Böhmen und Mähren von den Tschechen angetan wurde? Oder davon, dass Verbrechen der Roten Armee (Katyn, Lemberg) der Wehrmacht angelastet wurden? Ganz zu schweigen von den Mordlagern in Ostdeutschland, in Jugoslawien, in der Tschechoslowakei. Aber wer was werden will, der muss dem Zeitgeist huldigen. Das hat Katja Hoyer sehr wohl verstanden.
Ein beachtliches Manko stellt nun auch noch die Tatsache dar, dass das Buch einer deutschen Autorin zuerst in Englisch erschienen ist und dann nachträglich noch mal ins Deutsche zurückübersetzt wurde. Einige wenige Beispiele mögen das verdeutlichen:
Reichsstraße 1 (S. 79) - gemeint war wohl die Reichsautobahn1 Aachen-Königsberg.
Kameraden (S.145) - sind keine Kameraden, sondern Genossen, Comrades eben.
Ortsgruppenleiter (S.230) – Ortsgruppe welcher Partei oder was?
Studiengeld (S. 266) – das hieß schlicht und ergreifend Stipendium.
Bluthund (S.275)- gemeint ist der Schäferhund
Mitglied der Stasi (S. 325) – die Stasi hatte keine Mitglieder, nur Mitarbeiter.
Zahlreiche Cowboyfilme (S.331) – Es gab keine Cowboyfilme, nur Indianerfilme.
Stasi-Spionagetruppe (S.416)-das MfS war eine Geheimpolizei mit Spionageabteilung.
Schutzhaft (S. 493) – hieß und heißt immer noch Untersuchungshaft.
Rekrut im 2. Jahr (S. 504) Offiziersschüler waren keine Rekruten.
usw., usf.
Dass ein britisches Universitätsinstitut diese Arbeit zum Bestseller avancieren lässt, macht sprachlos. Auch die Rückübersetzung ins Deutsche durch Hoffmann und Campe sollte kritisch hinterfragt werden. Katja Hoyer breitet in ihrem Buch das aus, was ein Teil der ehemaligen DDR-Bürger, die dem System nahestanden, sich zumindest loyal verhielt, seit 1990 über die DDR erzählen. Stellenweise ist der Text kaum von plakativer DDR-Propaganda zu unterscheiden, zur besseren Lesbarkeit mit jeder Menge teils falsch kolportierter Details aufgeschäumt. Dieses Werk und dessen Narrative verzerren die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR in absurder Weise. Kein Wort über die Abhängigkeit der Bildung von politischem Wohlverhalten. Das Fehlen der persönlichen und gesellschaftlichen Freiheit. Von Widerspruch bis hin zum Widerstand ist gleich überhaupt keine Rede. Damit betreibt die Autorin Geschichtsklitterung.
Man muss kein Psychologe sein um zu erahnen, dass die langjährige Erduldung einer Diktatur, die ihre Untertanen nicht als mündige Bürger, sondern als zu Bevormundende und Befehlsempfänger gleich wie Leibeigene behandelt hat, tiefe kränkende Spuren im Selbstbewusstsein hinterlassen hat. Selbstmitleid, das sich in Aggressionen gegen Minderheiten, Ausländer pp ein Ventil sucht, aber in Wahrheit eine tief sitzende, nicht erkannte Selbstaggression wider die eigene Wehrlosigkeit darstellt. Das langjährige Erdulden der Unmündigkeit als Trauma, für das man Schuldige sucht. Nach dem Ende des autoritären Systems muss der Mensch auch mit dem Selbsthass in der neuen Freiheit, die in Wahrheit sein Menschenrecht ist, umgehen lernen. Kein Grund zu Selbstmitleid, sondern zu politischem Engagement im freiheitlichen System des Rechtsstaates mit all seinen veränderbaren Mängeln.
Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wie wir Weichzeichnungen oder Verschwörungserzählungen über die DDR und ihre Gläubigen wieder zurück in die Realität der Gesellschaft holen. Als präventive Maßnahme erweist sich dabei, Menschen, Leser resilient gegen Falschinformationen und Propaganda zu machen. Informationen und Einordnungen müssen allen zugänglich sein.
Tina Peters, Wolfgang Welsch