Ein Beispiel
Zum 50. Jahrestag des Beitritts der Bundesrepublik Deutschland in die Vereinten Nationen am 18. September 2023
Frühjahr 1973.
Nach meinem Freikauf aus 7-jähriger politischer Haft in der DDR durch die Bundesregierung und einer medizinisch gebotenen Rekonvaleszenz, hatte ich mich zum Sommersemester 1972 als Student der Politik, Soziologie und Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen eingeschrieben. Im Frühjahr 1973 entnahm ich einem Pressebericht, dass die DDR im September des gleichen Jahres die Mitgliedschaft in die Vereinten Nationen beantragen wollte. Angesichts dieser Absichtserklärung und der anhaltend schweren Menschenrechtsverletzungen durch das SED-Regime überlegte ich, wie ich gegen diese Absicht der DDR vorgehen könnte.
Ein Paradoxon. 1963 hatte ich mich noch als "DDR"-Bürger mit einem Schreiben an die UNO gewandt, in dem ich auf die Verletzung des Potsdamer Abkommens durch die "DDR" mit Blick auf die in Ostberlin eingeführte Wehrpflicht hinwies und dagegen protestierte. Einer von drei gleichen Briefen wurde abgefangen, und ich bekam 1964 wegen Verbindungsaufnahme mit einer "verbrecherischen Organisation", gemeint war die UNO, eine 1½ jährige Gefängnisstrafe. Nunmehr begehrte die "DDR" die Mitgliedschaft in eben dieser Weltorganisation. Kontaktaufnahme mit der UNO wurde in der DDR nach wie vor als kriminelle Straftat verfolgt.
Mir war bewusst, dass mit einer Mitgliedschaft zugleich die Anerkennung der Allmeinen Erklärung der Menschenrechte verbunden war, die das DDR-Regime tagtäglich verletzte. Menschen, die ihr Recht auf Freizügigkeit wahrnehmen und die DDR verlassen wollten, wurden kriminalisiert, verhaftet, verletzt oder auf der Flucht erschossen. Damit verstieß das SED-Regime mit ihren Mitwirkenden eklatant gegen die geltenden Menschenrechte, teilweise sogar gegen geltendes DDR-Recht.1 So zum Beispiel gegen den Internationalen Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte vom 19.12.1966 (BGBl. 1973 II 1553). Die Menschenrechte betreffenden Artikel lauten: Art. 6 (1) Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden. Art. 12 (1) Jedermann hat das Recht, seinen Wohnsitz frei zu wählen. (2) Jedermann steht es frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen.
Das SED-Regime verstieß gegen die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11. 1950, Abschnitt I Rechte und Freiheiten, Art. 2 (1) Eine absichtliche Tötung darf nicht vorgenommen werden, sowie gegen das Protokoll Nr. 4 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 16.9.1963.2
Zunächst verfasste ich einen mehrseitigen Text in dem ich die Gründe anführte, die eindeutig gegen eine Aufnahme der DDR in die Vereinten Nationen sprachen. Im Sommer des gleichen Jahres las ich eine weitere Pressemeldung, dass auch die Bundesregierung zeitgleich die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in die Vereinten Nationen beantragen würde. Zur zeitgleichen Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung auf Mitgliedschaft sollte eine, aus allen im Bundestag vertretenen Parteien paritätisch zusammengesetzte Delegation, zum Sitz der UNO nach New York reisen. Hier sah ich einen Ansatzpunkt, mein ‘Memorandum‘ an den Sitz der Vereinten Nationen zu bringen, obwohl mir bewusst war, dass die Vereinten Nationen nicht der Ort war, an dem Privatpersonen Meinungen äußern konnten. Für mich und meine Leidensgeschichte war es jedoch wichtig, mein Memorandum wenigstens in einem Papierkorb der UN zu wissen.
In der Hoffnung, ein Mitglied der Delegation zu finden, das sich bereit erklärte, den Text im Generalsekretariat der UNO abzugeben, suchte ich Ende August 1973 die Parteizentralen der in Frage kommenden Parteien in Bonn auf. Alle lehnten die Mitnahme des Memorandums mit dem Hinweis auf die neue Ostpolitik und die darin implizierten „gut-nachbarlichen Beziehungen zur DDR“ ab. Meine Überraschung war daher groß, als ich im Bonner Abgeordnetenhaus ‘Langer Eugen‘ vom Leiter des Abgeordnetenbüros des CSU-Vorsitzenden MdB Dr. Franz-Josef Strauß, Herrn Dr. Friedrich Voss, empfangen wurde.
Ich trug ihm mein Anliegen vor und überreichte ihm das Memorandum. Er zeigte sich interessiert und meinte, dass „der 18. September ein geschichtliches Datum sei, an dem die Bundesrepublik Deutschland aus dem Schatten der Nachkriegszeit heraus-, in die Völkerfamilie hineintreten würde. Die ‘sogenannte DDR‘“, wie er sie bezeichnete, „hat dagegen aus den Gründen die Sie in Ihrem Memorandum bezeichnen, das Recht auf Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen verwirkt“. Von meiner Idee angetan, schlug er mir vor, mein Ansinnen Dr. Strauß persönlich vorzutragen und meine Absichten zu erläutern. Nach einiger Zeit erschien Dr. Strauß und begrüßte mich freundlich. Nochmals erklärte ich meine Person und mein Anliegen, worauf FJS, wie man ihn allgemein nannte, mich über die Gründe meiner politischen Haft in der DDR befragte, insbesondere über diverse Misshandlungen und Foltermethoden physischer und psychischer Art, sowie über meine gegenwärtige Tätigkeit und politische Orientierung. Ich übergab ihm den achtseitigen Text, den er schnell und konzentriert las. Seine anschließende Kurzanalyse habe ich nie vergessen. Wörtlich führte er aus: „Interessant ist Ihr Memorandum allein dadurch, dass Sie wissen, worüber Sie geschrieben haben. Es ist wahr, den Vereinten Nationen muss ins Bewusstsein gerückt werden, wen sie da aufnehmen wollen. Auch wir in der CSU sind betroffen darüber, wie wenig öffentlicher Widerstand sich gegen eine Aufnahme der DDR in die UNO regt. Eigentlich hätten w i r (die CSU) das schreiben müssen.“
Er dankte mir für mein „patriotisches Engagement“, wie er es ausdrückte und versprach, sich dafür einsetzen zu wollen, dass das Memorandum von einem Delegationsmitglied der CSU nach New York gebracht und im Generalsekretariat der UNO übergeben würde. Allerdings, so schränkte er ein, könne er mir keine Hoffnung auf Beachtung machen. Er respektierte meinen Wunsch etwas zu tun, auch wenn es irrational zu sein schien. Mir würde es ausreichen, wenn meine Worte gegen den DDR-Beitritt in einer Schublade abgelegt würden.
„Was dann damit wird, liegt nicht in unserem Wollen und Handeln. Das Problem ist natürlich grundsätzlich bekannt. Wichtig ist die Tatsache, dass eine betroffene und kenntnisreiche Stimme den Finger auf diese deutsche Wunde legt. Wissen Sie, dass Sie damit Deutschland einen großen Dienst erweisen?“
Ich wusste es nicht, aber ich wollte den endlosen Strom aus Lügen, Heuchelei, Betrug und Gewalt sichtbar machen, der dick und dreist aus Ostberlin herüber quoll, demnächst sogar bis New York. Er wünschte mir auf meinem weiteren Weg viel Erfolg und fügte abschließend hinzu: „Ich höre, Sie studieren in Gießen, das ist doch in Hessen. Warum ziehen Sie nicht nach München? Wir haben eine sehr gute Universität. Wir können politisch engagierte Menschen wie Sie gebrauchen. Ihnen stehen bei uns alle Türen offen, wenn Sie wissen, was ich damit sagen möchte. Wenn Sie Hilfe brauchen können Sie mich jederzeit anrufen.“
Ich verstand. Doch zunächst war ich im Hochgefühl meines Erfolges und noch immer überrascht, dass der Parteivorsitzende der CSU mich ohne Termin empfangen hatte, mit mir sprach, meine Arbeit lobte und meinen Text nach New York bringen lassen wollte.
Eingedenk des Hilfsangebots von Dr. Strauß, verabredete ich im Oktober des gleichen Jahres mit Büroleiter Dr. Voss ein neues Treffen mit FJS. Diesmal wollte ich ihn um einen Rat in Sachen Fluchthilfe bitten. Zwischenzeitlich hatte ich sechs DDR-Bürger bei ihrer Flucht helfen können. Unser Wiedersehen und das Gespräch fanden in einer herzlichen Atmosphäre statt. Noch ehe ich ihm meinen Wunsch vortragen konnte, erklärte Dr. Strauß:
„Lieber Herr Welsch, gut, dass wir uns wiedersehen. Ich muss Ihnen sagen, dass wir uns beide in Bezug auf Ihr Memorandum gleichermaßen außerordentlich geirrt haben, waren wir doch überzeugt, dass Ihre Ausarbeitung in einer tiefen Schublade, oder gleich im Papierkorb des UN-Generalsekretariats enden würde. Dem war aber nicht so. Dabei hätten wir uns folgendes vorstellen können: Ein Mitglied der offiziellen Delegation des deutschen Parlaments überreicht im Generalsekretariat einen Schriftsatz. Während wir uns keine Illusionen über dessen weiteren Verbleib machten, übersetzte man das Schreiben ins Englische in der Annahme, es würde sich um ein Addendum der deutschen Regierung zum Beitrittsgesuch der Bundesrepublik in die UN handeln. Schließlich wurde es von einem Mitglied der deutschen parlamentarischen Delegation überreicht. So kam es, kurz gesagt, dazu, dass Ihr Memorandum entgegen unserer Erwartungen am 18. September 1973 um 10.00 Uhr Ostküstenzeit, auf allen Tischen im Plenum der Vereinten Nationen in New York lag. Auch auf dem Tisch des DDR-Vertreters. Als ich davon erfuhr, war ich so sprachlos wie Sie es jetzt wahrscheinlich auch sind.“
Ich war tatsächlich sprachlos, wurde aber zugleich von einem Glücksgefühl überwältigt. Mit diesem Ausgang hatte ich nie gerechnet. Die Ereignisse in New York waren offenbar so unübersichtlich, dass es mir, einem vormals misshandelten politischen Gefangenen der DDR und aktuell kleinen Politik-Studenten aus Hessen gelungen war, die DDR wegen ihrer permanenten Menschenrechtsverletzungen an den Pranger der Weltöffentlichkeit zu stellen. Während Dr. Strauß noch von Vorsicht vor einer möglichen Rache des DDR-Geheimdienstes sprach, erfüllte mich eine tiefe innere Befriedigung, dass mein widerständiges Handeln von einem derart unverhofften Erfolg gekrönt war. Bei der Verabschiedung erklärte Dr. Strauß, dass mein Memorandum historisch sei und ich mich damit um Deutschland verdient gemacht hätte. Daran änderte die Aufnahme der DDR in die UN kein Jota. Doch dieser Widerstand gegen ein menschenverachtendes System hatte Folgen.3 Dem SED-Staat galt ich fortan als Staatsfeind Nr.1.4 Das MfS initiierte, nicht zuletzt aus dem vorbeschriebenen Grund, den Zentralen Operativen Vorgang (ZOV) “Skorpion“, eine Kampfoperation der Geheimpolizei, die mit meiner Liquidierung durch drei Mordanschläge enden sollte, die ich glücklicherweise alle überlebte. Meine eigene Erfahrung ist, dass kein Widerstand zu gering oder zu aussichtslos ist, als dass er nicht doch Wirkung hinterlassen könnte.
Mancher mochte meinen, mein Handeln wäre ohne Sinn und würde nur geistige Ressourcen und Zeit verschwenden, möglicherweise sogar mein Leben. Für mich aber war meine Vorgehensweise nicht nur ein legitimer Schritt gegen Diktatur und Gewalt in meinem Land. Es war auch die Einlösung eines Versprechens am Tag meiner Ankunft in der Bundesrepublik, das verbrecherische System der DDR mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen.5 WW
1 Vgl. Wolfgang Welsch, “Ich war Staatsfeind Nr.1“, 14. Aufl. 2022, Piper München, S. 218 f
2 Mit ihrem Beitritt in die UN unterzeichnete und ratifizierte das SED-Regime auch die UN-Charta (Menschenrechtscharta) sowie die Verfahrensregeln der UNO Resolution 1503, eine Methode der komplikationslosen Ausreise aus der DDR, vgl. Brigitte Klump “Das rote Kloster“ 1981. Die Methode 1503 wurde von der Bundesregierung weitgehend tabuisiert, vgl. Brinkschulte “Freikaufgewinnler“ S. 194 u.a.
3 Klump, “Das rote Kloster“
4 Welsch, “Ich war Staatsfeind Nr.1“, S. 294 f
5 Welsch, “Widerstand. Eine Abrechnung mit der SED-Diktatur“, Lukas Verlag, Berlin 2021